In atemberaubenden Tempo kann Microsoft mit seinem Office-Paket punkten. Den Erfolg verdankt das Unternehmen der Corona-Pandemie und seinem durch die Krise beförderten Software-Modul teams. Es wird höchste Zeit, sich mit den Hintergründen dieser Software auseinanderzusetzen.
Um den Erfolg von Office 365 besser zu verstehen, hat eine Reihe von veränderten Software-Trends zu berücksichtigen, vor allem die Umstellung auf das cloud computing und die Integration von Elementen der Künstlichen Intelligenz.
Microsoft Office 365 wird als "Software as a Service" (SaaS) im Wege des Cloud Computing angeboten und stellt ein neues Geschäftsmodell dar. Die Programme sind in einer vom Anbieter betriebenen Server-Farm installiert, die Übertragung erfolgt über das Internet-Protokoll, und die Endbenutzer benötigen nur noch einen Browser. Die Software läuft auf jedem beliebigen Gerät, unabhängig von Hardware und Betriebssystem. Bezahlt wird nach Gebrauch, nach der Menge der übertragenen Daten bzw. der Zahl der Benutzer. Die Administration wird vom Softwarelieferanten übernommen, Upgrades und Updates eingeschlossen – alles das macht der Diensteanbieter, inklusive der fortlaufenden Modernisierung der Software und ihrer Anreicherung mit neuen Funktionen.
Die Folge ist, dass die anwendenden Unternehmen als Kunden des "Diensteanbieters" keinen oder nur noch geringen Einfluss auf die Gestaltung der Software haben. Vieles ist – jedenfalls beim Office 365 von Microsoft - nicht mehr einstellbar, sondern muss so hingenommen werden, wie der Hersteller es anbietet. Die Kunden erhalten in regelmäßigen Intervallen einen Newsletter mit den Ankündigungen der jeweiligen Neuerungen. Und dieser Newsletter umfasst auch gerne einmal bis zu 200 Einzelpositionen.
Ein relativ neues Leistungsmerkmal ist der gerne auch der "Künstlichen Intelligenz" zugeordnete Suchdienst Delve. Dieser basiert auf der Logik von Office Graph und wird von Microsoft als "selbstlernende Software" bezeichnet. Diese beobachtet die Benutzer bei allen Stufen des digitalisierten Arbeitsablaufs, indem kontinuierlich Signale gesammelt und ausgewertet werden, so zum Beispiel:
Einen umfassenden Überblick bietet die Liste der activities mit hunderten von events, die alle eine Spur im Office-System hinterlassen.
Ein Vergleich mit der Nutzung früherer Office-Software macht den Unterschied deutlich: Die Programme für Textverarbeitung, Tabellenkalkulation usw. sind auf dem benutzen Rechner gespeichert. Erstellte oder bearbeitete Dokumente verlassen diesen Rechner erst, wenn der Benutzer sie verschickt. Kein einziges Signal über die Aktivität des Benutzers verlässt während seiner Arbeit an dem Dokument seinen Rechner.
Nach nicht veröffentlichten Algorithmen werden durch Auswertung dieser vielen Ereignisse die „Trends“, sprich Interessen und Vorlieben der Benutzer ermittelt. Dies erfolgt vollautomatisch, durch sog. Maschinelles Lernen.
Sozusagen das gesamte Beziehungsgeflecht des Arbeitsgeschehens ist Gegenstand der Beobachtung durch die Software.
"Wenn Sie und ein Kollege beispielsweise das gleiche Dokument ändern oder anzeigen, ist dies ein Signal, dass Sie wahrscheinlich zusammenarbeiten"
Quelle Internet Microsoft Office-Support: Wie kann Office Delve wissen, was für mich relevant ist
ist in einem Microsoft-Dokument zu lesen . Daraus zieht das System dann seine Schlüsse, um den Benutzern "intelligente" Suchergebnisse anzubieten. Beim Suchen handelt es sich also nicht mehr um simplen Textvergleich, sondern um einen Dienst, der die Ergebnisse der vom Suchalgorithmus für wichtig erachteten Dokumente und Objekte zuerst präsentiert oder umgekehrt "verborgene Informationen" kenntlich macht, also von Menschen verfasste Texte anzeigt, mit denen man nie oder nur höchst selten zu tun hat. "Nutzer sollen so immer die Informationen und Dokumente erhalten, die gerade für sie wichtig sind", schreibt Microsoft, und seine Algorithmen entscheiden damit über die Wichtigkeit im Arbeitsalltag.
Man kann den Suchdienst individuell abschalten, was aber nicht bedeutet, dass das System die Signale im Hintergrund nicht sammelt; die "intelligenten" Suchergebnisse werden lediglich dem betroffenen Benutzer nicht mehr zur Verfügung gestellt, und er muss sich zufrieden geben mit der traditionellen auf Wortvergleich beruhenden Textsuche.
Was sich in der Werbung als Kommunikationsbeschleuniger darstellen lässt, etwa mit dem Slogan "Office Delve hilft Ihnen und Ihren Kollegen, über Verbindungen zu Inhalten und Themen besser miteinander zu kommunizieren" , hat natürlich seinen Preis: die gläsern gewordene Arbeit.
In einem Microsoft-internen Paper heißt es dazu: Office Graph sammelt und analysiert kontinuierlich Signale, die Sie und Ihre Kollegen aussenden, wenn Sie in Office 365 arbeiten. Wenn Sie und ein Kollege beispielsweise das gleiche Dokument ändern oder anzeigen, ist dies ein Signal, dass Sie wahrscheinlich zusammenarbeiten. Andere Signale sind, mit wem Sie per E-Mail kommunizieren, für wen Sie Dokumente freigegeben haben, wer Ihr Vorgesetzter ist und wer den gleichen Vorgesetzten hat wie Sie.
Quelle: Microsoft Internetseite: How does Office Delve know what's relevant to me?
Die Stellung einer jeden Person im Unternehmensnetzwerk – z.B. wer ist rühriger Aktivist, wer ist isolierter Eigenbrödler – bildet eine wichtige Datenquelle für die Ermittlung der Suchergebnisse.
Es ist nicht nur die eigene Lufthohheit, die die Algorithmen von Microsoft dem Benutzer entziehen, wenn sie ihm präsentieren, welche Funde für ihn die relevantesten sein sollen.
Dazu kommt noch, was wir von der Smartphone-Abhängigkeit kennen: Meine wichtigsten Kollegen – das Suchergebnis als eine Art Glücksspiel um die Aufmerksamkeit, Wichtigkeit festgestellt nach Häufigkeit. Und schon bekommt der Motor der inneren Hektik einen neuen Kick: Bin ich auch wichtig für meine Kollegen?
Eine durch den Korridor eilende Kollogin ruft einem Kollege zu: "Hast du schon meinen Beitrag geliked?". Was verpasse ich, wenn ich jetzt nicht weiter scrolle? Beachtlich bei alledem: die Zeit, die das erzwungene Aufmerksamkeitsspiel für die Bedienung des Systems auffrisst, Zeit, die ja eigentlich Zeit für die Arbeit ist oder zumindest sein sollte.
Von vielen – vermutlich nicht im Detail mit den Hintergründen vertrauten – Benutzern wird der Suchdienst als angenehmer Komfort begriffen, verglichen etwa mit der Google-Suche, die auch die Historie des Suchverhaltens im Hintergrund auswertet (und natürlich für Werbe-Platzierungen benutzt). Aber hier gibt es einen wichtigen Unterschied. Die Google-Suche – jedenfalls soweit wir wissen – beschränkt sich auf das Verhalten des einzelnen Benutzers und kennt diesen nur über die Identität des Browsers. Er kann jederzeit die Spuren der Vergangenheit ignorieren und von vorne beginnen. Die Delve-Suche begnügt sich nicht mit der Vergangenheit einer einzelnen Person, sondern wertet darüber hinaus dessen Beziehungen zu anderen Personen aus. Man kann es Menschen wohl kaum übel nehmen, wenn sie diesen Vorgang als "ausspionieren" bezeichnen.
Der Suchdienst stellt nicht nur einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Benutzers als Einzelperson dar, sondern berührt wegen des Bezugs auf das gesamte Geflecht der digital registrierten Arbeitsbeziehungen auch die Persönlichkeitsrechte anderer Menschen, und zwar ohne deren Zustimmung abzufragen. Umgekehrt kann man als einzelner Benutzer nie sicher wissen, welche anderen Personen Informationen erhalten, die unter Auswertung des eigenen Verhaltens zustande gekommen sind.
In den Nutzungsverträgen heißt es lediglich, dass Microsoft die Daten seiner Kunden "zur Verbesserung seiner Services" nutzen darf. Die heimlichen Formeln hinter der "intelligenten Suche" sind schließlich nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis ausgeklügelter Experimente. Microsoft erhält hier ein riesiges Experimentierfeld, um neue Services zu entwickeln, die zukünftigen Kunden dann wieder verkauft werden können.
An die Stelle einer von Menschen getragenen offenen Kommunikationskultur tritt immer mehr eine technisch vermittelte Kommunikation, bei der das Wissen im Kopf in von Algorithmen verwaltete Transaktionen verlagert wird.
Diese Technikfixierung stellt ihrerseits ein nur schwer einzuschätzendes Gefährdungspotenzial dar. Die an der Graphen-Theorie orientierten mathematischen Verfahrung beurteilen Relevanz letztendlich nach Häufigkeit. Bedeutung im Leben real existierender Menschen macht sich aber wesentlich an Erfahrungen fest, und diese kodiert das menschliche Gehirn überwiegend mit Gefühlen, die sich bekanntlich dem computertechnischen Durchdringen beachtlich widersetzen. So sind Fehlinterpretationen kaum vermeidbar, werden aber vor dem Hintergrund der Computergläubigkeit für bare Münze gehalten.
Fakt ist: Microsoft sammelt die Informationen über das nahezu komplette digitalisierte Arbeitsgeschehen der Beschäftigten eines Unternehmens ein, das Office-365-Kunde ist. Die Algorithmen im Hintergrund werden nicht offen gelegt, sondern im Marketing-Sprech der behaupteten Vorteile präsentiert.
Microsoft Graph ist eine Infrasterukturleistung, die innerhalb des Office-365-Pakets zur Verfügung steht. Begonnen hat dies mit der Aufwertung von Such- und Sortierverfahren, vom Microfts-Marketing als Anreicherung um "intelligente Algorithmen" gepriesen.
Für die weitere Entwicklung kündigt Microsoft an, dass mit dem Tool Microsoft Graph Data Connect Unternehmen einen "Blick auf Produktivitätsdaten des Microsoft Graphs" erhalten, "eine wertvolle Ressource, mit der Personen aber auch ganze Unternehmen einsehen und verstehen können, wie sie arbeiten. Durch die Möglichkeit, dass Unternehmen ihre eigenen Daten kontrollieren und diese sicher und gesammelt an einem Ort darstellen können, lassen sich effiziente Arbeitsmuster erkennen, die gegebenenfalls auf die gesamte Organisation übertragen werden könnten", erklärt Microsoft.
Die angekündigte Strategie besteht darin, den Zugriff auf Graph per API (Application Programming Interface) für beliebige weitere Programme zur Verfügung zu stellen, ähnlich wie die Spracherkennung Cortana, die dann auch für andere Programme nutzbar wird, damit diese in immer größer werdendem Umfang per Sprache gesteuert werden können.
Die Verbindung mit dem die gesamten collaboration tools durchziehenden Workflow erlaubt es dann, den Benutzern immer weitergehende Vorschläge machen zu können, wie sie arbeiten sollen, sozusagen best practice, durch Algorithmen gesteuert. Mit anderen Worten: Das betreute Arbeiten.
Karl Schmitz,September 2021 |