Guidelines für hybrides Arbeiten
Wie Arbeiten nach Corona konkret aussieht, dafür gibt es heute noch keine allgemeingültigen Rezepte. Die meisten Firmen experimentieren mit unterschiedlichen Formen, überlassen den Prozess der Initiative einzelner Teams oder dem Zufall. Leider gibt es dabei auch eine Menge Irrwege.
Hybrides Arbeiten umfasst eine Menge unterschiedliche Dinge: Traditionelles Arbeiten in der Firma sozusagen vor Ort, Home-Office, Einzelarbeit im Wechsel mit Teamarbeit, virtuelle Konferenzen per Video oder nur Audio, zugeschaltet zu Meetings mit physisch in einem Raum anwesenden Menschen oder lupenrein nur virtuell - und das alles in beliebigen Kombinationen.
Für Experimente über neue Arbeitsformen lassen sich immerhin ein paar Rahmenbedingungen benennen:
Gemeinsames Arbeiten
Das Arbeiten mit einem Computer weist einen starken Sog zur Vereinzelung auf. Traditionell ist man allein bei der Arbeit, hat Tastatur, Trackpad und Maus vor sich und sieht auf seinen Bildschirm. Daran ändert sich nichts Grundlegendes, wenn das Equipment noch um eine Videokamera ergänzt ist und man seine Kolleginnen und Kollegen in kleinen Kacheln neben der mit ihnen geteilten Arbeitsfläche per Videoconferenzing sieht.
Wenn es nur darum geht, einen Text gemeinsam zu redigieren, mag das hinnehmbar sein, immerhin ein deutlicher Fortschritt zur bloßen Telefonkonferenz.
Aber wie sieht das aus, wenn es gilt, für größere Probleme Lösungen zu finden? Jede Kommunikation hat bekanntlich neben der Inhaltsebene auch eine Beziehungsebene. Das Arbeiten mit Computern fokussiert stark auf die Inhaltsebene und lässt im Vergleich zum direkten persönlichen Kontakt die Beziehungsebene weitgehend draußen vor. Die eher informellen Aspekte der Kommunikation bleiben zu großen Teilen ausgeschlossen. Was kann man seinem Gegenüber zumuten, wo liegen die Schmerzgrenzen, was löst Begeisterung aus, wie kommt man zu neuen Ideen - das sind die Fragen, die eine Antwort wollen.
Kurzum: Jedes Team muss prüfen, wie viel Videoconferenzing die Arbeit verträgt. Nicht immer entstehen neue Ideen im Teammeetings. Aber gemeinsame Treffen sind unverzichtbar, wenn es darum geht, neue Ideen auf den Prüfstand zu stellen, die Bedenken zu erörtern oder die Vorschläge weiter zu konkretisieren.
Wenn man die Arbeit in Phasen einteilen kann, hat man Glück in der schwierigen Situation: Gemeinsam die Schwerpunkte der Arbeit festlegen und einzelne Aufgaben so definieren, dass sie auch einzeln bearbeitet werden können, komplett einzeln oder in nur gelegentlichem Austausch mit einzelnen anderen Kolleginnen oder Kollegen. Wichtig ist - wie bei jeder Projektplanung - dass es klar definierte Zwischenziele und gemeinsame Bewertungen des bisher Erreichten gibt.
Das lässt sich im Wechsel zwischen physischem Treffen, Videoconferencing und delegierter Einzelarbeit organisieren, leider allerdings oft nicht gemäß einem festgelegten Wochenplan noch dem Motto: Dienstag und Mittwoch sind meeting days, bei denen (möglichst) alle an Bord sind. Die durch die Technik eher benachteiligte unmittelbare Kommunikation muss also organisiert werden. Die Vorschläge der Softwareanbieter, die Gespräche vor dem Kaffeeautomaten durch elektronische Tools für small talk zu ersetzen, sind nicht gerade hilfreich.
Hybride Meetings
Von den Talkshows aus der Coronazeit kennt man die Muster: Menschen sitzen zusammen in einem Raum und auf großen Bildschirmen sind einzelne Personen zugeschaltet. Das erfordert einige Voraussetzungen. Man braucht ein vernünftiges Equipment: Kamera, Bildschirme, Mikrophon, nicht gerade in Baumarkt-Qualität. Und genügend geeignete Räume, die nicht Wochen im Vorraus gebucht werden müssen. Wenn die Teilnehmer draußen gemäß der Telekom-Devise "Wir schließen nicht jedes Maisfeld an" im digitalen Nirvana leben, hat man Pech gehabt. Dann heißt es warten, bis die Bundesregierung die Digitalisierung ein Stück vorangetrieben hat.
Rituale
Das hybride Arbeiten erfordert eine Menge Organisation. Rituale im Sinne festgelegter Tage oder Breakpoints im Projektverlauf für Treffen, zu denen alle erscheinen, sind zumindest in einer Anfangsphase hilfreich. Auf jeden Fall sind solche Zeitpläne nichts für die Ewigkeit, sondern bedürfen regemäßiger Überprüfung und Aktualisierung.
Erfahrungsaustausch
Nicht nur für die betroffenen Teams ist eine gemeinsamer Erfahrungsaustausch wichtig. Auch das Unternehmen muss lernen, wie sich die unterschiedlichen Praktiken der verschiedenen Teams in einem gemeinsamen Lernprozess zusammenfassen lassen, etwa durch Beschreibungen von für das Unternehmen typischen Arbeitssituationen und darauf bezogenen organisatorischen Unterstützungen, zum Beispiel in Form geeigneter Guidelines, die natürlich ebenfalls eine regelmäßige Aktualisierung erfordern. Denn ein Zurück zur Vor-Corona-Zeit wird es nicht mehr geben.
Infrastruktur
Es wird am Anfang kaum ein Weg daran vorbei gehen, dass einzelne Gruppen ihre speziellen Erfahrungen machen müssen. Aber dass Ergebnisse dieser Experimentierphase gesammelt und kommuniziert werden können, bedarf organisatorischer Arbeit, für die ein Unternehmen Verantwortlichkeiten schaffen muss. Diese Aufgabe umfasst die Bereitstellung der geeigneten Technik sowohl für die kollektiven als auch die individuellen Phasen der Arbeit, die Organisation des teamübergreifenden Erfahrungsaustauschs und die Bereitstellung geeigneter Schulungen, als Präsenzveranstaltungen sowie als Online-Angebote für individuelles Lernen.
Besondere Situationen
Nicht alle Arbeiten lassen sich in Projekt- oder projektähnlicher Form organisieren. Dazu zählen Arbeiten, die aus sich ständig wiederholenden und im Detail festgelegten Arbeitsschritten bestehen oder Arbeitsformen, die nur einen gelegentlichen Erfahrungsaustausch erfordern wie zum Beispiel der Kundenaußendienst einer Firma oder die Tätigkeit von Beraterinnen und Beratern eines Consulting-Unternehmens.
Formal ist diesen Arbeitsweisen gemein, dass sie sich auf Tätigkeiten beziehen, die über größere Zeitabschnitte einzeln durchgeführt werden können und nur auf weniger häufige gemeinsame Absprachen angewiesen sind.
Die Fallstricke
Es gibt eine Menge neuer Probleme, die ein Unternehmen im Visier behalten muss. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim virtuellen Arbeiten nicht zu verlieren. Führungskräfte müssen lernen, mit der neuen Situation umzugehen: man sieht seine Leute nicht mehr und muss sich von dieser Art (vermeintlich) direkter Kontrolle verabschieden.
Der vielgepriesenen "digitalen Transformation" ist nicht mit der Einführung des remote Arbeitens und Videoconferencing genüge getan, sondern die Bereitstellung von Information stellt eine gehörige Herausforderung dar, die viele traditionelle Softwaresysteme nur unzureichend erfüllen. Es kommt darauf an, dass für jede Arbeit die zu ihrer Durchführung wichtige Information auch direkt am Ort dieser Arbeit zur Verfügung steht. Wir sind noch weit entfernt von dem Grundsatz, dass keiner seine Arbeit oder Teile davon nicht machen kann, weil die erforderlichen Informationen fehlen.
Auch Betriebsräte müssen große Teile ihrer Arbeit neu definieren und vor allem auch organisieren.
Kampf gegen die Vereinsamung
Hier ist nicht der Ort für Statements, dass evolutionsgeschichtlich Menschen Herdentiere sind. Sie in die Vereinzelung zu treiben, hat psychische Folgen, die niemandem guttun. Menschen brauchen Orientierungspunkte, auch in einer Firma, so etwas wie ein Stück Heimat. Wenn man sich seinen täglichen Arbeitspatz buchen muss, wie bei booking.com eine Urlaubsreise, dann ist es nicht mehr weit her mit der Indentifikation der Menschen mit der Firma, für die sie arbeiten.
Die durch den Online-Betrieb beförderte physische Kontaktarmut wurde von der IT-Industrie selbst als neues Geschäftsfeld erkannt. So werden zahlreiche Produkte angeboten, um die Benutzer zumindest für ein paar Stunden aus der Home-Office-Atmoshäre zu entführen: Escape-Rooms für Kochkurse, Verköstigungen, Anleitungen für virtuelle Feiern usw. - ein Tummelfeld für eine ganze Reihe von Start-Ups, die ihre Chance darin sehen, die eher spärlichen Angebote der Platzhirsche aufzupeppen.
Auf der anderen Seite: Die Marktforschungsagentur IDC versteigt sich sogar zu der Videokonferenz-Trend-Prognose:
Die Anwendungen müssen so wichtig sein, dass sie auch dann verwendet werden müssen, wenn Personen zusammen im selben Raum sind.
Also weiter kräftig in die Sackgasse! Da helfen dann auch Mixed Reality und Künstliche Intelligenz nicht mehr.
Führung, die sich auf Kontrolle fixiert, ist hier fehl am Platz. Vertrauen ist ein großes Wort, das seinen Kredit verspielt, wenn das Verhalten der Führungskräfte nicht dazu passt. Viele Unternehmen stecken hier im Elend der Matrixorganisation, dem Konflikt zwischen fachlicher Führung und Personalverantwortung. Führungskräfte, die keine fachliche Ahnung haben, können sich nur durch reichlich veraltete autoritäre Methoden Geltung verschaffen. Fachkräfte mit Führungsaufgaben ohne minimale Empathie sind ebenfalls ein Fehlgriff. Selten denken Unternehmen darüber nach, wie man beide Anforderungen unter einen Hut bringt und dafür auch geeignete Karrieremöglichkeiten schafft. Nichts ist öder für Menschen, die gute Arbeit leisten, wenn es für sie keine Entwicklungspfade gibt und das Unternehmen keine Antennen für innovative Anregungen ausfahren kann.
Das leidige Problem der digitalen Transformation
Eine IT-Abteilung, die ihre Seele an die Outsourcer verkauft hat, steht hier buchstäblich im Regen, vor allem dann, wenn das von Unternehmensberatungen via Benchmarking verordnete cloud first sich in Richtung eines cloud only mausert. Jedes Outsourcing muss sich der Gefahr bewusst sein, dass damit nicht nur Kompetenz abgegeben, sondern auch neue Abhängigkeit eingekauft wird. Selbst das Anpassen der Programme an bescheidene Benutzerwünsche gerät dann schnell zum teuren Projekt. Da helfen auch die Konzepte des low code nicht wirklich, auf deutsch: Programmieren ohne Programmierkenntnisse.
Die IT ist eine hervorragende Technik, nahezu jede Information an fast jeden Ort zu bringen, und das zu minimalen Kosten. Aber dies will in Szene gesetzt werden. Die Informations-Anforderungen für die unterschiedlichen Arbeitssituationen müssen definiert werden, und schön für eine Firma, wenn ihre Spezialisten sich dafür noch die erforderlichen Fähigkeiten erhalten durften.
Fazit
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Karl Schmitz, Dezember 2021 |