Die Grenzen der Digitalisierung

Digitalisierung und Globalisierung beherrschen weltweit die IT-Strategien zumindest der großen Unternehmen. Zeit, zu klären, was sich hinter den Begriffen verbirgt.

Begrifflichkeiten

Lösen wir den Begriff Digitalisierung aus einem rein technischen Verständnis, so bleibt festzustellen: Digitalisierung hat mit Information zu tun. Aber diese war sozusagen in den Dingen, in den Objekten, mit denen wir zu tun haben. Inzwischen haben wir es erreicht, die Information von den Dingen und Vorgängen, mit den wir befasst sind, zu trennen. Informationen sind sozusagen der Begleitschatten der Dinge. Und wir haben Computer. Deren "Kerngeschäft" besteht darin, nur mit den Informationen umzugehen. Zwei wichtige Merkmale kennzeichnen dieses Geschehen:

Nun lässt sich alles mit allem verbinden. Jede Einheit, ob Mensch oder Ding, hat eine Identität, über die sie ansprechbar ist, und der Informationsaustausch läuft über ein einheitliches Medium. Die Industrie-4.0-Phantasie hat zum Ziel, IT-Technologien mit Produktionstechnologien so zu verschmelzen, damit dadurch neue, innovative Produkte und Leistungen ermöglicht werden. Kritiker unterstellen dem Konzept allerdings den Denkfehler, dass ein komplexes und soziales System wie eine ganze Fabrik mit Algorithmen steuerbar sei. Das habe noch nie funktioniert.

Digitaler Alltag

Konzentrieren wir uns auf den heute erlebbaren digitalen Alltag und insbesondere auf die Arbeitsbeziehungen, die ja in einem besonderen Fokus der Zusammenarbeit von Unternehmen und Betriebsrat stehen. Einige Bespiele:

Skype for Business

Die Kommunikationsbeziehungen der arbeitenden Menschen sind in dem Microsoft-Produkt (Teil des Office-365-Konzeptes) digital vermittelt. Eines der Leistungsmerkmale der Software nennt sich Präsenzmanager und führt Buch über die verschiedenen Arbeitszustände der Mitarbeitenden:

 

 

Das Beispiel zeigt die Registration des augenblicklichen Zustandes der Präsenz eines Mitarbeiters, der in einem Konzern weltweit für alle Beteiligten sichtbar gemacht werden kann.

Neben der Sinnfrage, wem die ständige Erfassung dieser vielen unterschiedlichen Statusmerkmale eigentlich nützen soll, ist zu anzumerken, dass jeder Statuswechsel ein Signal auslöst, das vom big data-Hintergrundsystem akribisch aufgenommen und für spätere von herstellerseitig geheim gehaltenen Algorithmen erzeugten Verhaltensempfehlungen an die Benutzer ausgewertet wird.

Skill Management

Die Vermessung der Mitarbeiter-Talente steht im Mittelpunkt vieler Personalsysteme. Qualifikationen der Mitarbeitenden werden auf einer vorgegebenen Skala (z.B. kennen – können – beherrschen) bewertet. Nach den gleichen Kriterien lassen sich die Anforderungen der Arbeitsplätze bzw. Jobs beschreiben. So können die idealerweise passenden Mitarbeiter zu den entsprechenden Tätigkeiten gefunden werden.

Damit ist die Qualifikation der Mitarbeitenden katalogisiert. Kritisch muss allerdings angemerkt werden, dass mit diesem Verfahren die Anforderungen für die Arbeit von gestern beschrieben sind, die dann später für die Beurteilung für zukünftige Arbeiten herangezogen werden können. Nicht gerade zukunftsorientiert.

Mitarbeiterbeurteilungen

Zielvereinbarungen und die Bewertung der Zielerreichung haben sich in vielen Unternehmen als Personalmanagement-Methoden durchgesetzt. In zahlreichen Betriebsvereinbarungen zu dem Thema wurde der Versuch unternommen, die Beschreibungen und Bewertungen so objektiv wie möglich zu gestalten. Anders ist dies, wenn auch Verhaltensweisen und deren Bewertung einer in Skalenwerten (z.B. unter Standard, Standard, über Standard) erfassten Beurteilung unterworfen wird. Ein Beispiel aus der Praxis:

Zu diesen Verhaltensweisen gibt es dann Dutzende von Seiten mit Richtbeispielen für verschiedene Ebenen der Führungskräfte und einfache Mitarbeitende, sozusagen als Hilfestellung für die Beurteilung.

Hervorzuheben ist hier, dass subjektive Urteile, die stark von den jeweils aufeinander treffenden Personen abhängen, Gegenstand einer digitalisierten Erfassung werden, ebenfalls in einer Datenbank gespeichert werden und tendenziell weltweit verfügbar sind. Subjektive individuelle Einschätzungen verlassen den vertraulichen sensiblen Rahmen zwischen Mitarbeitenden und Führungskraft und werden als scheinbar objektiv gemessene Fakten dargestellt.

Diese Beurteilungen gehen weit über Kommentierungen der Arbeitsleistung hinaus und beschreiben teilweise Charaktereigenschaften, wobei sich die Frage stellt, ob das Management des Arbeitsverhältnisses solche umfangreichen Datensammlungen rechtfertigt.

Das digitale Mitarbeitergespräch

Softwareanbieter werben damit, dass Stellenbeschreibungen einerseits, Mitarbeiter- und Zielvereinbarungsgespräche andererseits sich mühelos digitalisieren lassen. Alle Informationen, die einen Mitarbeiter betreffen, sollten an einem zentralen Ort gespeichert werden - zum automatischen Erzeugen der jeweils benötigten Formulare und vor allem zur Verwendung im Mitarbeitergespräch.

Auch nichtfachliche Eignungskriterien können einbezogen werden. Diese "weichen" Kriterien werden vom System mit Verhaltensmerkmalen hinterlegt und stehen dann für Abfragen zur Verfügung.

Im Mitarbeitergespräch können Führungskraft und Mitarbeitende diese Informationen dann gemeinsam anschauen, denn – so die Herstellerwerbung - die Software ist mobil nutzbar und Tablett-tauglich.

Weiter aus der Herstellerwerbung:

Die Gesprächspartner können sofort gemeinsam überprüfen und dokumentieren, ob die Stellenbeschreibung noch aktuell ist, inwieweit die Ziele bereits erfüllt sind und welche Weiterbildungsmaßnahmen sinnvoll erscheinen. Letztere werden dann gleich in einem Template für das kommende Jahr erfasst. Für den HR-Bereich soll das die Organisation von Inhouse-Schulungen erleichtern, die Personaler würden quasi auf Knopfdruck sehen, wie viele Mitarbeiter ein bestimmtes Training benötigen.

Zusammenfassung

  • Alle Stellenbeschreibungen mit Ziel und Zweck, Kernaufgaben und Anforderungsprofil inklusive Soft Skills (Kernkompetenzen) werden elektronisch abgebildet.
  • Die Kernkompetenzen werden automatisch aus den Stellenbeschreibungen in die Zielvereinbarungsgespräche übernommen, Jahresziele in Form von Projekten manuell ergänzt.
  • Die Führungskräfte dokumentieren die Zielvereinbarungsgespräche im System.
  • Der Prozess wird für die HR-Manager im Ampelsystem dargestellt, um Transparenz über den Fortschritt der Gespräche im Gesamtunternehmen herzustellen.
  • Die Leistung des Mitarbeiters wird im Jahresendgespräch vom System sofort errechnet und interaktiv dargestellt.
  • Das gesamte System ist Tablett-fähig und mehrsprachig.

Die "Betreuung" der Arbeit hat sich zu einer Tätigkeit ausgeweitet, die beachtliche Zeitanteile beansprucht. Ob ihr auch ein angemessener Nutzen gegenüber steht, bleibt fraglich. Die Technisierung der Kommunikation erfährt dann ihren Höhepunkt, wenn das Mitarbeitergespräch auf ein Ping Pong hin- und hergesendeter Mails reduziert oder durch eine Skype-Session ersetzt wird.

Workflows

Einige der genannten Beispiele haben bereits ein weiteres Merkmal der digitalisierten Arbeitswelt gezeigt: Die Steuerung der Prozesse durch elektronische Workflows. Die einzelnen Arbeitsschritte und ihre zeitliche Abfolge sind in Systemen festgelegt, ihre Einhaltung wird überwacht oder gar erzwungen.

Wenn man Pech hat, findet man sich schnell als Gefangener des Systems. Es kommt schon einmal vor, dass jemand bei der Talentbewertung eines Mitarbeiters einen Eintrag macht und diesen nicht mehr korrigieren kann, weil das System ihm dafür die Berechtigung entzogen und einer anderen Person zugeteilt hat.

Ansonsten beklagen insbesondere die Führungskräfte der mittleren Ebenen, dass ihnen bis zu zwei Stunden tägliche Arbeitszeit durch Bearbeitung der oft nur von den Systemen erzeugten Workflows in Beschlag genommen wird. Es genügt nicht, z.B. Genehmigungen zu erteilen, sondern die Vorgänge bedürfen meist auch noch einer elektronischen Bestätigung. Wo hier der Beitrag zur Produktivitätssteigerung liegt, bleibt das Geheimnis der Systemanbieter. Jede einzelne Workflow-Betätigung erzeugt wieder eine hochgradig kontrollgeeignete Datenspur, denn immer ist festgehalten, wer wann was getan hat.

Beispiele dieser Art lassen sich beliebig fortsetzen. Im Vertrieb sind es die Opportunities, die von den Sales-Leuten mit Volumen und Wahrscheinlichkeit bewertet werden müssen, zur Freude der oberen Manager dann als verschieden große bubbles über die Bildschirme wandern und auf Schritt und Tritt kommentiert werden müssen. Dem Außendienst werden die zu erledigenden Aufgaben von Systemen vorgegeben und verlangen nach zeitaktuellen Erledigungsvermerken usw.

Diese wenigen genannten Beispiele werfen die Frage auf, wie wir unter den Bedingungen der Digitalisierung arbeiten wollen. Bevor wir uns aber dem Versuch einer Antwort auf diese Frage zuwenden, bedarf es eines Blicks auf einen weiteren Aspekt der Digitalisierung.

Folgen der Globalisierung

Die beschriebenen Beispiele zeigten schon recht deutlich die Möglichkeit, die Computerleistung an jeden beliebigen Ort der Welt zu bringen, technisch ermöglicht durch ein einheitliches Übertragungs-Protokoll und das Cloud Computing. Damit sind Prozesse mit fast Lichtgeschwindigkeit weltweit zugänglich.

Menschen leben und arbeiten seit Menschengedenken in Nachbarschaften, in überschaubaren und vor allem sinnlich erfahrbaren Arbeitsräumen, in Teams und Betrieben. Diese Grenzen, nicht nur der Betriebe, sondern darüber hinaus der Länder und Nationen verschwinden infolge der Digitalisierung: Alles wird – zumindest theoretisch - weltweit sichtbar und verfügbar. Das einst von dem Medienwissenschfter Marshall McLuhan beschriebene Globale Dorf hat seine Heimeligkeit längst verloren.

Dieser Trend kommt mit einigen Sachzwängen daher. Der Wichtigste heißt Standardisierung. Weltweit einheitlich betriebene Systeme verlangen nach Gleichtakt der Bearbeitung. Bleiben wir im Personalbereich: Performance Management und Talent Management sollen möglichst nach einheitlichen Maßstäben arbeiten. Diversity ist etwas fürs Glanzpapier der Marketing-Abteilungen, die Realität in den Systemen ist eher Uniformität.

Die vielen Workflows verlangen ständige Aufmerksamkeit und Aktivität. Dank mobilen Arbeitens sind sie nicht mehr an festgelegte Arbeitszeiten gebunden. Die Vorgaben durch die Systeme lassen wenig Spielraum für eigene Autonomie des Handelns, und dies wirkt sich zerstörend auf Phantasie und Initiative aus. Engagement und intrinsische Motivation weichen pflichtgetriebener Aufgabenerfüllung. Zielvereinbarungssysteme und Performance Management packen immer noch eine Aufgabe auf das Arbeitspensum drauf, und das unter Dauerbeobachtung, mit ständiger Begleitung durch die zu bedienenden elektronischen Systeme, bei denen Chef, Chefchef und weitere Personen einen permanent kontrollierenden Blick auf die Dinge haben.

Talente werden gefunden, bewertet und verwaltet. Qualifikationslevel sind registriert, aber leider werden die Anforderungen für die Zukunft mit den Kriterien der Vergangenheit gemessen. Das Leitbild des "betreuten Arbeitens" hat längst die Eigeninitiative ersetzt. Offensichtlich hält man die Menschen für zu dumm, zu unwisswend oder sostwie zu unfähig, als dass man ihnen zutrauen könnte, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Systeme sollen ihnen sagen, wo es längs geht.

Die Matrixorganisation mit ihren virtuellen Teams, fachlichen Vorgesetzten an anderen Orten und oft in anderen Ländern oder Kontinenten, Projektleitern an noch anderen Stellen, Kollegen vor Ort und oft auch anderswo leistet dem Verlustgefühl von Identität weiteren Vorschub.

Die neuesten Errungenschaften der Softwaretechnik machen Anleihen bei den predictive analytics , verkauft als Integration von Elementen Künstlicher Intelligenz oder genauer gesagt als autonomes maschinelles Lernen, ermöglicht durch die big data-Systeme, die bisher nicht handlebare ungeheure Datenmengen in kürzester Zeit verarbeiten können. Die Software-Hersteller von den Office-Systemen (Microsoft, Google) bis zu den Personalsystemen (SAP, Oracle, workday) lassen keine Chance aus, diese Leistungsmerkmale wie Sauerbier anzubieten. Im Klartext: Systeme machen aufgrund der zur Echtzeit erfolgenden Auswertung aller von Menschen ausgelösten Signale Vorschläge, was als Nächstes zu tun sei, was angeblich relevate Dokumente sind, die man sich ansehen sollte oder mit welchen Kollegen man unbedingt wieder Kontakt aufnehmen sollte. Analysesysteme schicken sich an, sogar Vermutungen anzustellen, welche Mitarbeiter möglicherweise die Firma zu verlassen drohen oder – Horror für Betriebsräte – verlassen sollen.

Das alles zusammengenommen bedeutet permanenten Stress. Die globale Aufstellung mit ihrem Vorrang für digitalisierte Vorgänge erzeugt ein Gefühl individueller Ohnmacht. Immer häufiger führt dies zu Depressionen, die dann verniedlichend burn out genannt werden.

Das System hat die Rahmenbedingungen des Arbeitens vorgegeben. Widerstand erscheint zwecklos.

Die Grenzen der Digitalisierung

Der Gegenbegriff zur Globalität heißt Lokalität. Das Unternehmen der Zukunft wird nicht umhinkommen, Lokalität neu in Szene zu setzen. Arbeit muss als sinnvoller Zusammenhang erfahrbar sein, Zusammenhang, der begreifbar und erlebbar ist. Der heimlichen Regel, dass alles was sich nicht heftig wehrt, digitalisiert wird, gehört der Kampf angesagt. Im Einzelnen:

Karl Schmitz, Oktober 2017