Die Herrschaft der Workflow-Systeme

Anwendungssysteme verwenden immer mehr Workflows. Die Softwareanbieter rühmen die Vorteile. Wir beschäftigen uns mit den Risiken und Nebenwirkungen.

Der Mainstream

Die neueren Software-Systeme sind durchsetzt mit Workflows. Ein Workflow gliedert eine zu leistende Arbeit in einzelne Arbeitsschritte und legt dann deren Reihenfolge sowie die Verteilung der Arbeit fest, wobei die Einhaltung der nun elektronisch festverdrahteten Arbeit erzwungen werden kann. Wenn es Abweichungen von diesem Grundmuster gibt, weden diese in sog. Eskalationsregeln festgehalten, so dass die (erlaubten) Ausnahmen vom Regelablauf ebenfalls festgelegt sind. Anderes geht dann nicht mehr.

Zu Zeiten der industriellen Massenproduktion ist man ähnlich vorgegangen. Es war die Blütezeit des Taylorismus, und herausgekommen ist die Fließarbeit. Die hat man dann Jahrzehnte später so gut wie abgeschafft, weil die durch die Fließorganisation bedingte uniforme Bearbeitung den längst auf stärkere Individualisierung zielenden Marktanforderungen nicht mehr gewachsen war, oder anders ausgedrückt: nicht mehr erfolgreich war.

Das geschah im sog. blue collar-Sektor. Bei den white collars ist man unverdrossen dabei, die historischen Fehler aus der industriellen Produktion zu wiederholen. Alle Prozesse sollen standardisiert werden, am besten weltweit in gleicher Form ablaufen, ungeachtet der kulturellen und lokalen Besonderheiten. Standardisierte Prozesse sind schließlich das Futter für die workflow-getriebenen Softwaresysteme. Die Beachtung der Lokalität schrumpft auf die Einhaltung gesetzlicher Regelungen, die zum Leidwesen der Globalisierungs-Fans noch von in Ländern organisierten Nationen gemacht werden. Wenn China per Gesetz die Verarbeitung persönlicher Daten seiner Bürger außerhalb des Landes verbietet, muss man das eben beachten.

Insbesondere die workflow-getriebenen Softwaresysteme sind geronnene Arbeitsstruktur. Die Regeln der Software legen fest, wie Menschen ihre Arbeit zu verrichten haben. Die Software-Anbieter verweisen auf die Vorteile, dass die Einhaltung der Regeln vom System erzwungen wird. Dies diene der Fehlervermeidung und Qualitätssicherung. Wenn in einem Konzern die Regeln weltweit einheitlich gelten, dann hat das den wirtschaftlichen Vorteil, die Installation und das Customizing des Systems nur einmal – mit dem Anspruch universeller Gültigkeit – vornehmen zu müssen. Abweichungen sind dann auf wenige (vor allem die gesetzlich erzwungenen) Ausnahmen begrenzt.

Gegenmodelle

Mit dem bereits seit den 1990er Jahren bekannten Konzept der Objektorientierten Programmierung wurde ein radikal anderes Verfahren vorgeschlagen. Grund dafür waren vor allem die immer weiter steigenden Kosten der Softwaresysteme.

Nach dem Modell der Objektorientierung hat ein Softwaresystem nur Objekte und Methoden bereit zu stellen und alle Festlegungen der Arbeitsabläufe aus der Software herauszuhalten.

Objekte sind die Dinge, die bearbeitet werden können: eine Rechnung, ein Kundenauftrag, eine Materialbeschaffung, eine Personaleinstellung, eine Gehaltszahlung usw.

Methoden sind die Bearbeitungsmöglichkeiten, die von der Software zur Verfügung gestellt werden: eine Rechnung kann gebucht werden, eine Gehaltszahlung wird errechnet und zur Auszahlung angewiesen. Die Arbeitsabläufe, also die Festlegungen wer wann was macht, werden in diesem Modell durch Organisationsanweisung oder Absprache der Menschen untereinander festgelegt und sind nicht Gegenstand des Softwaresystems.

Der Vorteil ist die unvergleichlich höhere Flexibilität des aus Menschen und Softwareunterstützung bestehenden Arbeitssystems. Kein Change-Management mit umfangreichen Release-Änderungen der Software ist nötig, wenn ein Unternehmen seine Organisation umkrempelt; es reicht die mit den üblichen Mitteln des Direktionsrechts geänderte Absprache über die Arbeitsabläufe: wer macht wann was mit wem usw.

Das hinter dem Konzept der Objektorientierung stehende Paradigma sieht Software eher als Werkzeug, während das Workflowsystem eher dem Konzept Software als Maschine folgt. Dies ist mit sehr unterschiedlichen Chancen, Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Software als Werkzeug bedeutet auch ein investigatives Arbeitsmittel, das den Betroffenen Möglichkeiten bietet, Dingen auf den Grund zu gehen und Schlüsse aus beobachtbaren Entwicklungen zu ziehen, die zu konkretem Handeln befähigen. Software als Maschine konfrontiert die Bediener mit im Vorraus festgelegten Abläufen, deren korrekte Abwicklung überwacht werden will.

Aufwand und Kosten

Im Vergleich mit der häufigem Wechsel unterworfenen Arbeitsorganisation und ihrer Vielzahl an Arbeitsabläufen ändern sich Objekte und Methoden nur eher langsam. Eine Rechnung ist eine Rechnung und bleibt eine Rechnung, ihre Datenstruktur ändert sich im Laufe der Zeit nur minimal. Und die Änderung dessen, was man mit einem solchen Objekt tun kann, ist auch eher langsamem Tempo ausgesetzt. Der Änderungsaufwand für das Buchen oder Stornieren einer Rechnung unterliegt im Vergleich zu den Bearbeitungsabläufen nur einem geringen Tempo. Somit ist der Änderungsaufwand für das objektorientierte Softwaresystem im Vergleich zu dem Workflow-System eher bescheiden. Die Auswirkungen für die Wartungskosten der unterschiedlichen Softwaresysteme ergeben sich dann aus einer einfachen Rechenaufgabe zu Gunsten des objektorientierten Systems.

Verlust an Steuerungsfähigkeit

Im Vergleich zur Zeit vor zehn oder zwanzig Jahren hat die IT-Durchdringung der Arbeitswelt gewaltig zugenommen – um das einzusehen braucht es nicht die Schlagzeilen um den Industrie 4.0-Hype oder die Politiker-Slogans von der Digitalisierung. Software wird immer mehr zum Nervensystem der Unternehmen – ohne geht so gut wie nichts mehr.

Seltsamerweise hat die Sofware aber das Rennen um die Zugehörigkeit zum Kerngeschäft eines Unternehmens verloren. Das herrschende Modell ist immer mehr "Software as a Service" (SaaS), beflügelt durch die autemberaubend schnellen Erfolge des Cloud Computing. Software wird als Dienstleistung eingekauft. Der Einfluss der Unternehmen auf die Gestaltung der Systeme schrumpft, nicht zuletzt getrieben durch die preisgünstige Variante der "public cloud", deren wirtschaftiche Vorteile sich nach dem Gesetz der großen Zahl errechnen – was ein Softwareanbieter weltweit einheitlich auf den Markt werfen kann, lässt sich im Stil einer win-win-Situation zu Vorteilen beider Seiten besser organisieren.

Somit bleibt den Unternehmen als Kunden nur noch wenig Spielraum bei der Gestaltung ihrer Arbeitssysteme. Im Großen und Ganzen hat man zu akzeptieren, was der Softwareanbieter serviert. Die Entscheidungen über die IT waren und sind bei Vorständen der Konzerne und Geschäftsführungen der Unternehmen überwiegend in Händen von Kaufleuten. Vielleicht handelt es sich hier um die späte Rache gegenüber den in früheren Zeiten oft als arrogant erlebten IT-Leuten, die sich nie verständlich erklärt haben, immer aber wichtig wichtig und vor allem viel zu teuer waren. Die Entscheider müssen sich nun nicht mehr von den eigenen Leuten unter Druck setzen lassen, sondern können auf benchmark-geprüfte Services externer Anbieter zurückgreifen. Übersehen wird allerdings der Verlust an Steuerungsfähigkeit für das eigene Unternhemen.

Unterstützt wird dieser Effekt durch die schnell wachsende Komplexität der Softwaresysteme. Ist die Entscheidung zu Gunsten eines hochstandardisierten Cloud-Service einmal gefallen, wird der Ausstieg aus diesem Szenario zu einem kostenintensiven und risikobehafteten Gewaltakt. Die Entscheidung "Make or Buy" war lange durch die Frage getriggert, ob es sich um das Kerngeschäft des Unternehmens handelt, bei dem man sich ja vom Wettbewerb unterscheiden will. Offensichtlich verliert die IT diesen Spitzenplatz immer mehr. Je mehr man sich dem global standardisierten IT-Innenleben seiner Arbeitssysteme anvertraut, desto stärker verzichtet man auf die Lufthoheit über die Steuerung der eigenen Prozesse.

Beschädigte Innovationsfähigkeit

Stark workflow-getriebene Systeme haben ein inkorporiertes Leitbild über die Rolle der Menschen im Arbeitssystem. Dies hat zu tun mit dem Unterschied zwischen Werkzeug und Maschine. Ein Werkzeug muss man benutzen, eine Maschine muss man bedienen. Die Rolle der Menschen in einem Arbeitssystem ist eine wesentlich aktivere, wenn man ihnen ein Werkzeug an die Hand gibt, jedenfalls im Vergleich mit einer Person, die man an eine Maschine stellt.

Bei der Technikunterstützung der Arbeit hängt vieles davon ab, um welche Art von Arbeit es sich handelt. Elektronisch gesteuerten Workflows kann ein verdienter Platz dort eingeräumt werden, wo es sich um routinehafte Arbeitsabläufe mit hohem Wiederholungsgrad handelt, wobei hier durchaus die Überlegung gerechtfertigt ist, solche Abläufe komplett zu automatisieren und softwareunterstützt nur eine Supervisionsfunktion zur Verfügung zu stellen.

Die IT-Technik ist über jeden Zweifel erhaben bestens geeignet, Rechenoperationen durchzuführen (dies funktioniert um schätzungsweise sieben Zehnerpotenzen schneller als in menschlichen Gehirnen und vor allem zuverlässiger) und Informationen zu verteilen, also an jeden erdenklichen Ort zu bringen, an dem sie genutzt werden können. Diesem Tatbestand verdanken wir den Effekt, dass immer mehr Arbeiten vom Betrieb als zwangsweise gegebenem Ort der Arbeit entkoppelt werden können.

Auszug aus einer Betriebsvereinbarung
Für die Konzeption der durch das System unterstützen Prozesse gilt der Grundsatz, dass Workflows im Sinne festgelegter und vom System erzwungener Arbeitsfolgen nur dort eingesetzt werden, wo sie nachweislich Routineabläufe vereinfachen oder automatisieren.

Für alle dispositiven und mit Entscheidungen verbundenen Arbeitsschritte hat die durch Menschen zu erbringende Arbeit Vorrang vor der Technisierung.

Der Systemeinsatz muss die Priorität des direkten Gesprächs beachten; deshalb ist insbesondere eine Technisierung der Kommunikation zu vermeiden. Teamwork und Zusammenarbeit sollen begünstigt und nicht durch Technik behindert werden.

Handelt es sich um Tätigkeiten, bei denen assoziative Denkvorgänge eine Rolle spielen oder gewünscht sein können, so sind sie – Stand der Technik von heute – wesentlich besser bei den grauen Zellen menschlicher Gehirne aufgehoben. Dies gilt auch insbesondere für alle dispositiven Tätigkeiten und für Arbeitssituationen, bei denen Reaktionen auf unvorhergesehene Dinge erforderlich sind. Hier muss sich "gute" Software darauf beschränken, nützliche Information bereitzustellen, und sie sollte dies in einer für die Benutzer gut verstehbaren Form tun. Softwarenentwickler sind hier vor allem bezüglich der "usability" ihrer Systeme gefragt.

Das Zappeln im Netz der durch Workflows reglementierten Systeme ist nicht das Umfeld für kreative Leistungen. Initiative und Innovation benötigen Handlungsspielräume. Software sollte sich davor hüten, diese zu beschneiden.

Besonders verheerend sind die geschilderten Nebenwirkungen bei der im Personalbereich eingesetzten Software. Gleich ob es sich um die Systeme der Platzhirsche Oracle und SAP oder des Möchtegern-Shooting Stars workday handelt, alle brüsten sich mit ihren überbordenden Workflows. Ihr Leitbild ist der Mensch als Objekt, das es zu verwalten gilt, wie es der Name Human Resources oder Human Capital Management bereits zum Ausdruck bringt. Wenn man die Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Beschäftigten möglichst umfangreich dokumentiert hat, dann kann man vor ebenso umfangreich dokumentierten Anforderungskatalogen den Nutzen dieses Objektes Mitarbeiter und seine Defizite feststellen, es an dem "richtigen" Ort allozieren, sein Potenzial bewerten und es auf dem gewünschten oder vorgesehenen Weg "fördern". Wie wenig attraktiv ist ein solches Arbeitssystem im Gegensatz zu einem System, das sich damit begnügt, die Optimerung der Rahmenbedingungen für erbringbare Leistungen zu managen und darüber hinaus der intrinsischen Motivation der Menschen Raum zu bieten, statt sie gemäß einem Leitbild des "betreuten Arbeitens" bestmöglich zu verwalten. Zugegeben gute Absichten, aber mit vermutlich enttäuschendem Nutzen.

Globalisierungs-Ohnmacht

Die Evolution hat uns nach Jahrhunderttausenden von Entwicklungszeit befähigt, unsere Erfahrungen in überschaubaren Gruppen zu erleben und zu verarbeiten. Es ist schön, dank der technischen Fortschritte mit der ganzen Welt in Kontakt treten zu können. Aber wir verfügen über keine Sinnesorgane für Globalisierung. Die elektronische Vernetzung mit Partnern, die man nie gesehen hat, ist eine Hades-artige Schattenwelt im Vergleich zum realen Leben. Die auf digitalisierte Information reduzierten Inhalte der Software-Systeme kennen keine Gefühle und verkennen die ungeheuer mächtige Codierungs-Leistung von Gefühlen, die Erfahrungen ganzer Lebensabschnitte auf einen sofort abrufbaren Punkt bringen können.

Wenn man bei allem Trachten nach Globalität ihren Gegenpol, die Lokalität, vergißt, wird das bezahlt mit einem Gefühl der Anonymität und der Ohnmacht. Allzu leicht können die nicht mehr erlebbaren Trends zu Lethargie, Frustration und Resignation führen, wie auf einem anderen Gebiet das weit verbreitete Phänomen der Politik-Verdrossenheit deutlich zeigt. Arbeits-Verdrossenheit äußert sich in Dienst nach Vorschrift bis hin zur Depression.

Menschen haben eine intrinsiche Sehnsucht nach Sinn-Erfahrung, und das betrifft auch und besonders ihre Arbeit, die ja schließlich den größten Teil der wachen Lebenszeit ausmacht. Die Organisation der Arbeit darf diese Sehnsucht nicht zerstören.

Irrweg Künstliche Intelligenz

Die Softwarehersteller bieten wie Sauerbier ihre an den Konzepten der Künstlichen Intelligenz (KI) angelehnten Leistungsmerkmale an, ob sie passen oder nicht.

Wenn heute von KI die Rede ist, denkt man vor allem an Mustererkennung wie Umgang mit natürlicher Sprache oder Gesichtserkennung, an maschinelles Lernen in regelbestimmten Umgebungen und an das wahrscheinlich am weitesten entwickelte KI-System, die Google-Suchmaschine.

In der Office-Software, aber auch in Personalsystemen tauchen Aspekte dieser High-Tech-Entwicklung als predictive analytics auf, als Dienstleistungen, die den Software-Benutzern auf der Grundlage von Auswertungen ihrer bisherigen Aktivitäten und gesteuert durch – natürlich geheim gehaltene - Algorithmen Vorschläge für ihr künftiges Tun machen. Noch klingt es harmlos, wenn eine Software unaufgefordert den Personalentwickler darauf hinweist, dass eine Kollegin im Einkauf aufgrund ihrer vom unterstellten Normverhalten abweichenden Kontakte möglicherweise kurz davor ist, zu kündigen und zur Konkurrenz abzuwandern oder dass der Leiter des Rechenzentrums – ebenfalls möglicherweise – gerade im Begriff ist, gegen eine wichtige Compliance-Regel zu verstoßen.

Viele KI-Top-Entwickler arbeiten fieberhaft daran, ihre Software aus dem Stadium des Lieferanten kluger Informationen in den Zustand des Akteurs zu befördern, also die Software zu befähigen, selber eigenständige Handlungen vorzunehmen. Vorerst sind es nur die Drehbuchschreiber von Science Fiction-Filmen, die daraus stories machen, wie sich solcherart Software verselbständigt bis hin zur versuchsweisen Vernichtung der Menschheit als ihrem Hauptfeind (vgl. Nick Bostrom: Superintelligenz).

Zurzeit, im Jahr 2017 (und 2022 immer noch nicht falsch), sieht man einmal von maschinennahen Anwendungen im Produktionsbereich ab, sind die Anbieter noch weit entfernt, wirklich brauchbare Leistungen ihrer KI-Bemühungen anzubieten. Dennoch wird der Trend der Entwicklung erkennbar, auch wenn es pathetisch klingen mag: Maschinen übernehmen die Herrschaft über Menschen.

Konsequenzen

Ein einzelnes Unternehmen, sein Management, sein Betriebsrat oder eine sonstige sich berufen fühlende Agentur werden die Produkte der führenden Software-Anbieter nicht ändern, jedenfalls nicht schnell genug. So lange dieser beklagenswerte Zustand anhält, fährt man am besten mit der Devise Wenig ist besser als Mehr. Mit anderen Worten, man sollte sich bei der Festlegung des Nutzungsumfangs der Software auf das unerlässliche Minimum beschränken.

Auf keinen Fall sollte man der Versuchung unterliegen, die Technisierung der Kommunikation auf die Spitze zu treiben. Dafür zu sorgen, dass Arbeit in überschaubaren Einheiten erlebbar ist, wird zu einer wichtigen Gestaltungsanforderung. Unbedingt sollte Druck auf die Hersteller ausgeübt werden, ihre Software umfangreicher konfigurierbar zu machen, im Jargon: die Bandbreite des Customizing deutlich zu erhöhen. Damit blieben die Optionen erhalten, die softwaregestützten Arbeitssysteme besser an lokalen Anforderungen auszurichten.

Eine kleine Nachbetrachtung zum Thema


Karl Schmitz, August 2017