Der Ego-Tunnel

Neuigkeiten, Erfolge, Bücher, Berichte, Kommentare zum Thema Künstliche Intelligenz überstürzen sich in immer kürzer werdenden Zeitabschnitten. Vor diesem Hintergrund tut es gut, der Frage nachzugehen, wie es mit unserer Intelligenz steht, der menschlichen Intelligenz. Auf dieser Reise back to the roots habe ich den Ego-Tunnel von Thomas Metzinger ausgegraben, erstmals erschienen im Jahr 2009. Der Mainzer Philosophieprofessor, der es selber gut mit Schachtelsätzen kann, hat keine Angst vor Glashäusern, wenn er Steine für seine Kollegen auspackt:

Als ich in Frankfurt am Main Philosophie studierte, versuchten die meisten Professoren in der Regel nicht, frei zu sprechen und ihre Vorlesungen aus dem Stehgreif zu präsentieren; stattdessen lasen sie häufig neunzig Minuten lang aus einem Manuskript ab, wobei sie Salven von außerordentlich langen Schachtelsätzen auf ihre Zuhörer abfeuerten, eine nach der anderen. Ich hatte bald den Verdacht, dass es in diesen Vorlesungen und bei manchen geisteswissenschaftlichen Vorträgen überhaupt nicht um gelungene Kommunikation ging (obwohl sie recht häufig von Kommunikation handelten), sondern dass es sich hier um eine pseudointelliktuelle Art von Angeberei und Drohverhalten handelte: „Ich werde euch eure eigene geistige Unterlegenheit demonstrieren, indem ich sorgfältig vorbereite, phantastisch komplexe und scheinbar endlose Sätze auf euch abfeuere, einen nach dem anderen. Sie werden euren Kurzzeit-Puffer zum Zusammenbruch bringen, weil ihr sie nicht mehr in eine einheitliche zeitliche Gestalt integrieren könnt. Ihr werdet nicht verstehen, aber ihr werdet zugeben müssen, dass euer Tunnel kleiner ist als meiner!“

Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel, 4. Auflage Mainz 2011, S. 62.

Thomas Metzinger kommentiert weiter, dass solche Verhaltensweisen eine psychologische Strategie seien, eine subtilere Form von Imponiergehabe, eine Art von Machoverhalten, bedingt durch die begrenzte Kapazität unseres sich durch die Zeit bewegenden Gegenwartfensters.

Bei dem Buch handelt es sich um ein philosophisches Werk für interessierte Laien. Es finden sich viele Ausführungen, bei denen ein naturwissenschaftlich gedrillter Leser etwas ratlos sich fragt: na und?

Nun aber zu den wichtigsten Erkenntnissen aus dem Buch, die ein etwas anderes Licht auf die heutigen Debatten zum Thema künstliche Intelligenz werfen könnten (die plilosophisch trainierte Leserschaft möge mir die krude Zusammenfassung des rund 300 Seiten umfassenden Essays verzeihen):

  • Unsere Wirklichkeit ist nur eine innere Repräsentation der Welt, die unser Gehirn mit Verstand und Gefühl aus unseren Wahrnehmungen und Empfindungen herstellt. Sie ist nur uns selbst direkt zugänglich.
  • Wir sind prinzipiell unfähig, zu erleben, dass unsere bewusst wahrgenommene Welt nur eine Simulation ist.
  • Unser Gedächtnis ist nicht bloß ein Abruf gespeicherter Informationen, sondern reproduziert abhängig von der jeweils aktuellen Situation eine Erinnerung und verändert sich dabei. Folge: Es gibt keine wiederholten identischen Erinnerungen.
  • Unser Gehirn ist immer aktiv und verfügt über ein konstantes Hintergrundrauschen, das in theoretischen Diskussionen mit dem Bewusstsein in Zusammenhang gebracht wird.
  • Das vom Gehirm erzeugte Weltmodell - unser Ego-Tunnel - zeichnet sich durch einen eigenartigen Umgang mit der Zeit aus: Die Gegenwart ist keine messerscharfe Schneide zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern ein ausgedehnteres Zeitfenster, in dem der Pfad durch die Wirklichkeit als eine Kette individueller Momente erlebt wird, mit relevanten Anteilen aus der Vergangenheit und Vorgriffen auf eine schon geahnte Zukunft.
  • Es bleibt eine offene Frage, wie groß der Spielraum für verschiedene Variationen dieses subjektiven Zeiterlebens ist.
  • Unser Gehirn liefert uns eine multisensorische Integration unserer Sinneswahrnehmungen einschließlich unserer eigenen Körperwahrnehmung

 Werfen wir nun wieder einen Blick auf die Künstliche Intelligenz (Darthmouth 1956). Sie begann mit dem Anspruch, Maschinen bauen zu wollen, die Sprache verwenden, abstrahieren, Begriffe bilden und Probleme lösen könnten, Dinge, die man bis dato nur menschlicher Intelligenz zugerechnet hatte. So verwundert die Anleihe bei den Vorgängen im menschlichen Gehirn auch nicht. Man hat nachgebaut, was man verstanden hat.

  • Die heute zugänglichen Softwareprodukte der Künstlichen intelligenz sind allesamt auch nur modellhafte Repräsentationen,
  • allerdings nicht der subjektiv erlebbaren Realität, sóndern unterschiedlich gesammelter umfangreicher globaler digitalisierter Informationen.
  • Sie kennen keinen durch individuelle Erfahrung getriggerten Zugriff auf ein Jetzt als aktuelles Gegenwarts-Fenster.
  • Ein Hindergrundrauschen ist für jede Art von Softwareprodukt eher ein Störfaktor.
  • Sie verfügen über keine autonome Wahrnehmung, „erinnern“ nichts, sondern liefern nur, was man sie fragt. Ihre Antwort beruht auf der Verwendung von Algorithmen aus Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung.

 

Karl Schmitz Juli 2024