Hans Magnus Enzensberger:
Das digitale Evangelium
Essay aus dem SPIEGEL 2/2000, S. 92 -101
"Medienproheten, die sich und uns entweder die Apokalypse oder die Erlösung von allen Übeln weissagen, sollten wir der Lächerlichkeit preisgeben, die sie verdienen."
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Digitale Evangelisten und Apokalyptiker beherrschen die Diskussion, wenn es darum geht, die Folgen des Internet-Booms zu erörtern. Das jedenfalls meint Hans Magnus Enzensberger, seines Zeichens Lyriker, Essayist und intellektueller Hansdampf in allen Gassen. Enzensberger rät dazu, die Kirche im Dorf zu lassen und sich von den Propheten nicht in die Irre leiten zu lassen. Sein im SPIEGEL erschienenes und lesenswertes Plädoyer für eine entspannte Sichtweise ist mit etlichen bemerkenswerten Zitaten gewürzt, die wir Ihnen nicht vorenthalten möchten.
Zu antiken und neuzeitlichen Bedenkenträgern
- "Woran es (...) nie gefehlt hat, das waren die Warner und die Mahner. Die Kulturkritik ist älter als Ihr Name."
- "Schwerlich lässt sich das politische Interesse übersehen, das den erhobenen Zeigefinger motiviert. Die Alphabetisierung bedrohte das Informationsprivileg der Gelehrten und Gebildeten, und jedes neue Medium gefährdete in den Augen der Obrigkeit die Moral der Untertanen. Von der Romanlektüre wurde bereits im 18. Jahrhundert mit denselben Argumenten gewarnt, die heute gegen das Fernsehen ins Felde geführt werden."
Von Religion zur Technisierung
- "Die beiden Fraktionen ( des Diskurses) folgen einem bekannten religionsgeschichtlichen Muster. Auf der einen Seite finden wir die Apokalyptiker, auf der anderen die Evangelisten. In mehr als einer Hinsicht hat ja der technische Fortschritt die Nachfolge der Offenbarungsreligionen angetreten. Heil und Unheil, Segen und Fluch lesen die Auguren seit der Aufklärung nicht mehr in den Heiligen Schriften, sondern aus den Eingeweiden der technischen Zivilisation."
Zur Unbelehrbarkeit der Propheten
- "Die vielen Pleiten, die ihren Verheißungen beschieden waren - das alles kann (die Evangelisten) in ihrem Behagen nicht stören. Propheten sind gegen Tatsachen immun. Das macht ihren Reiz aus."
- "Auch die Behauptungen der Apokalyptiker zeichnen sich durch einen triumphierenden Tonfall aus. Sie haben den Charme des Endgültigen. Ihrer Radikalität haftet die Selbstzufriedenheit dessen an, der über alle Illusionen erhaben ist und die allgemeine Verblendung durchschaut hat. Auch in diesen Fällen erweist es sich als Vorteil, (...) auf Tatsachen keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen."
Zum Gebrauchswert der neuen Medien
- "Gewöhnlich greifen die technischen Medien nicht nur der Theorie, sondern auch der Praxis vor. Einer der Gründe dafür, dass unter den historischen Erfindern so viele im Armenhaus starben, liegt darin, dass sie den Gebrauchswert ihrer Waren verkannten."
- "Wie in den frühen Phasen der Mediengeschichte wird es lange dauern, bis sich herausstellt, wozu das Neue gut ist und wozu nicht."
- "Hoffnungsfroh stimmen in dieser Hinsicht Zwölfjährige, (...) die, ohne den unbrauchbaren Handbüchern auch nur einen Blick schenken, auf eigene Faust ausprobieren, wozu der nagelneue Schrott, der ihnen angeboten wird, am Ende taugt."
- "Die digitalen Medien schließen durch ihre Benutzerfeindlichkeit zwei Drittel der Bevölkerung von ihrem Gebrauch aus. Man fragt sich vergeblich nach dem ökonomischen Sinn dieser Sabotage."
Fluch und Segen der Informationsflut...
- "Einerseits das Edikt, die kaiserliche Botschaft, die das Gefälle zwischen Befehl und Gehorsam voraussetzt; auf der anderen Seite der "herrschaftsfreie Diskurs" gleichberechtigter Terilnehmer. In diesem Sinn ist das Netz tatsächlich eine utopische Erfindung: Es hat den Unterschied zwischen Sender und Empfänger abgeschafft."
- "(Das jahrhundetalte Rezept der Medienkontrolle versagt also seit einigen Jahren.) Was die Kontrolle letzten Endes unmöglich macht, sind weniger die ausgefeilteren Chiffriertechniken. Es ist das schiere Volumen des Verkehrs. Kein Filter kann verhindern, dass die Zensurinstanzen unter dem Informationsoverkill zusammenbrechen. Sie erfahren nicht zuwenig, sondern zu viel."
- "Die Veröffentlichung, im Gutenberg-Zeitalter ein Privileg Weniger, wird zum elektronischen Menschenrecht (...)."
- "(Der Anwender) sieht sich mit einer Komplexität konfrontiert, die auf das, was er braucht, keinerlei Rücksicht nimmt. (...) Die Handbücher, die ihm geliefert werden, könnten, was ihre Verständlichkeit angeht, auch von Marsmenschen verfasst sein."
- "Die Verwechslung von bloßen Daten mit sinnvoller Information bringt seltsame Chimären hervor. Ein relativ harmloses Beispiel ist das Lexikon. Man kann mit gutem Grund behaupten, dass die Enzyklopädien je neuer, desto reichhaltiger und unbrauchbarer sind. (...) An die Stelle des Zusammenhanges tritt der link, der per Mausklick zu einer endlosen Suche nach dem kontext einlädt."
- "Die neuen Medien haben nur Datenschutt und Splitter anzubieten. (...) Als einzige mögliche Gegenwehr bietet sich eine Ökologie der Vermeidung an."
- "Das rasante Informationstempo hat zur Folge, dass die Halbwertzeit der Speichermedien sinkt. Geräte, die (zur Auswertung alter Datenbestände) nötig wären, sind längst ausgestorben. (...) Vermutlich läuft das Ganze darauf hinaus, daß wir uns immer mehr immer weniger lange merken können."
- "Kurzum, das interaktie Medium ist weder Fluch noch Segen; es bildet schlicht und einfach die Geistesverfassung seiner Teilnehmer ab."
Zu den Illusionen der Medien-Industrie
- "Der Zustand der sogenannten Multimedia-Branche lässt sich am Gewirr der Kabel ablesen, über welche die Putzfrau stolpert. Vom technischen Zusammenschmelzen der elektronischen Medien kann in Wirklichkeit keine Rede sein."
- "Was den Abbau von Hierarchien angeht, sind Zweifel angesagt. (...) Das liegt am Beharrungsvemögen der Platzhirsche, die ökonomische Gesichtspunkte immer nur dann gelten lassen, wenn es darum geht, andere "abzuwickeln"."
- " Eine weitere Illusion, die fast alle Medienarbeiter hegen, ist der Glaube, daß ihnen die Leute glauben. (...) Heutige Zuschauer, Leser, Konsumenten sind in dem Sinn hoffnungslos aufgeklärt, daß sie den Medien gegenüber die Wahrheitsfrage einfach ausklammern."
- "Die Prophezeihung von der emanzipatorischen Kraft der neuen Medien trügt. Nicht jedem fällt was ein, nicht jeder hat etwas zu sagen, was seine Mitmenschen interessieren könnte."
Welche "Klassen" überleben den Umbruch ins neue Zeitalter?
- "Ganz oben (...) rangiern die Chamäleons, (...) äußerst dynamische Workaholics. Eine wesentliche Bedingung Ihres Erfolges ist, dass sie mit der materiellen Produktion nichts zu tun haben. Ihr Geschäft ist nicht die Hardware, sondern die reine Software."
- "Erhebliche Überlebenschancen kann man den Igeln einräumen. Was sie auszeichnet, ist gerade ihr Mangel an Flexibilität. Ihre Heimat ist das Gehäuse der Institutionen (...). Die vielgeschmähte Bürokratie hat sich bisher allen Veränderungen der Arbeitswelt als resistent erwiesen. Die Nachfrage nach Regelungen steigt unvermeidlich mit wachsender Komplexität."
- "Die Zahl aller anderen Arbeitsplatzbesitzer (Biber) wird voraussichtlich weiter schwinden. Die klassischen Produktivitätssektoren schrumpfen durch Automatisierung, Rationalisierung und Auslagerung in Niedriglohngebiete.
- "(Zur vierten Klasse gehören) Leute, die nicht in den Tugendkatalog des digitalen Kapitalismus passen und die daher aus seiner Perspektive überflüssig sind. Sie machen zweifellos auch in den reichen Ländern einen stetig zunehmenden Teil der Bevölkerung aus. Im Weltmaßstab sind sie ohnehin in der überwältigenden Mehrheit."
- "Den Anforderungen (des digitalen Kapitalismus) ist ein großer Teil der Bevölkerung schlechterdings nicht gewachsen. (...) In den Ländern der sogenannten Dritten Welt ist an die Integration der Mehrheit in den globalen Wirtschaftskreislauf ohnehin nicht zu denken. Die politischen Folgen dieser Entwicklung sind unabsehbar."
Fazit
- "Medien spielen eine zentrale Rolle in der menschlichen Existenz, und ihre rasante Entwicklung führt zu Veränderungen, die niemand wirklich abschätzen kann. Medienproheten, die sich und uns entweder die Apokalypse oder die Erlösung von allen Übeln weissagen, sollten wir der Lächerlichkeit preisgeben, die sie verdienen."
- "Es gibt ein Leben diesseits der digitalen Welt: das einzige, das wir haben."