Das Verfahren, auch 360-Grad-Beurteilung genannt, ist ein spezielles Management-Audit und stammt aus der Management-Diagnostik und klassischen Vorgesetzten-Beurteilung. Dabei sollen nicht nur Vorgesetzte ihre Untergebenen beurteilen, sondern Gleichgestellte und die "untergebenen" Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen in das Verfahren einbezogen werden.
Führungskräfte sollen ihre Eignung als Vorgesetzte besser beurteilen können, insbesondere ihre Stärken ausbauen, aber auch Handlungsmöglichkeiten für die Verbesserung ihrer Schwächen erkennen.
Traditionelle Beurteilungen erfolgen in den meisten Unternehmen im Top-Down-Verfahren. Das heißt, eine oder mehrere Führungskräfte beurteilen eine Person in unterstellter Funktion. Im Mittelpunkt soll die Beurteilung der Führungsleistung stehen, der umso mehr Bedeutung für den Erfolg beigemessen wird, je höher die betroffene Person in der Hierarchie des Unternehmens steht.
Mit dem Verfahren verbunden sind auch Hoffnungen, die Motiviertheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verbessern. Diese geben oft an, dass
Die Ursachen für diese Missstände werden dann darin gesehen, dass Führungskräfte sich ihrer Defizite nicht bewusst sind und kein Konsens darüber besteht, was im Unternehmen wirklich wichtig ist. Vorgesetzte, Kollegen und Mitarbeiter haben oft weder die Möglichkeit, präzises Feedback zu geben noch erhalten auch welches. Es ist nicht bekannt, wie an Defiziten gezielt gearbeitet werden kann. Es findet keine zuverlässige Kontrolle statt, ob und wie erkannte Defizite abgestellt werden.
Da in vielen Unternehmen das Verfahren nur wenig über den Personenkreis der Leitenden Angestellten ausgedehnt bleibt, sehen die meisten Betriebsräte keinen Handlungsbedarf. Oft blieb das Verfahren auf höchstens zehn Personen begrenzt. Doch seit Mitte der 1990er Jahre ändert sich das Bild. Eine Reihe von Beratungsfirmen bieten den Unternehmen spezialisierte Unterstützung an.
Betriebsräte müssen sich in dem Maße um die Angelegenheit kümmern, in dem auch untere Führungsebenen einbezogen werden. Ein frühes Aktivwerden eröffnet die Chance, nicht abzuwarten, bis im mitbestimmungsfreien Raum die Fäden sozusagen festgezurrt sind und nur noch kosmetische Korrekturen am Verfahren angebracht werden können.
Die Veranstaltungen finden meist in jährlichem oder zweijährigen Turnus statt. Am Verfahren sind beteiligt:
Die meisten Verfahren stützen sich fast ausschließlich auf halbstrukturierte Interviewtechniken, ohne diese um andere Diagnoseinstrumente zu ergänzen.
Andere Verfahren arbeiten mit unterschiedlich stark strukturierten Fragebogen, die zum Schein an ein paar Besonderheiten des Unternehmens angepasst werden, ein Trend, der insbesondere bei der Einschaltung großer Beratungsunternehmen zu beobachten ist.
Das Verfahren ist insgesamt relativ aufwendig und kann in einer Sequenz von Workshops und Einzelgesprächen stattfinden.
Daneben gibt es rein computerunterstützte Verfahren wie z.B. das Inquery 360 Grad Feedback. Dabei handelt es sich um ein Online-Feedbacksystem, mit dem man nach Angaben der Anbieter die Rückmeldungen schnell erfassen, auswerten und kommunizieren können. Die Teilnehmer bekommen per E-Mail Zugang zu einer persönliche Seite im Intranet oder Internet. Auf ihr sehen sie alle Feedbacknehmer. Auf Knopfdruck wird die jeweilige Bewertung gestartet, heißt es in dem Werbematerial der Firma. Deren Werbematerial verweist nicht nur auf die Schnelligkeit als Vorteil, sondern auch auf die Kostenersparnis im Vergleich zur aufwendigen Auswertung papierunterstützter Verfahren.
Gerade bei der Beurteilung durch unterstellte Mitarbeiter ergibt sich das Problem schöngefärbter Aussagen, da diese Mitarbeiter (gelegentlich zu Recht) negative Folgen aus offener Kritik befürchten. Daraus ziehen viele Unternehmen die Konsequenz, die Feedbacks anonym abgeben zu lassen.
Das kritische Thema ist natürlich das Führungsverhalten. Dies ist, je weiter unten in der Unternehmenshierarchie die Führungsaufgabe angesiedelt ist, umso mehr durch Themen geprägt, die in den Verhaltensweisen konkreter Personen begründet sind.
Hier verdeckt die Anonymität präzise Kritik, die erst das Herausarbeiten von Handlungsmöglichkeiten für Verbesserungen ermöglicht. Kritik bleibt oft auf der Ebene allgemeiner Vorwürfe hängen, vertiefende Nachfragen sind nicht möglich. Solange das Feedback positiv ausfällt, gibt es dabei natürlich kein Problem, aber in diesem Fall bringt die Anonymität auch wenig Nutzen, denn die gute Nachricht hätten die Mitarbeiter ihrem Chef auch offen überbringen können.
Auch die Besprechung einzelner kritischer Punkte in einem insgesamt positiven Bild erfordert in der Regel nicht den Schutz der Anonymität. Zum Problem wird die Anonymität ausgerechnet dann, wenn sie am wichtigsten wäre, nämlich dann, wenn es um ein kritisches oder sogar extrem kritisches Feedback geht. Dann ermöglicht die Anonymität vielleicht noch die Feststellung von Problemen, aber zugleich erschwert sie enorm deren Bearbeitung und Lösung (siehe auch: Der Fluch der Anonymität).
Es gibt einen unauflösbaren Widerspruch zwischen Anonymität und Konfliktklärung. Um einen Reibungspunkt tatsächlich auszuräumen, genügt es nicht, auf einer Skala von 0 bis 6 ein paar Items anzukreuzen, sondern es ist erforderlich, zu erläutern, wo die Gründe der Unzufriedenheit liegen, herauszuarbeiten, welche unterschiedlichen Sichtweisen oder Erwartungen im Spiel sind und festzulegen, wie mit dem Problem in Zukunft umgegangen werden soll. Da dies schlecht anonym möglich ist, kommt in jeder 360-Grad-Beurteillung unvermeidlich der Punkt, an dem die Anonymität mindestens teilweise aufgehoben und miteinander gesprochen werden muss. Und das ist umso schwieriger, je gravierender die betreffenden Punkte sind – und je weniger über sie bislang offen gesprochen worden ist.
Vor allem im Schutz der Anonymität öffnet das Feedback
unvermeidlich Tür und Ort für Racheakte und Intrigen. Man kann seinem
Chef unter dem Schutz der Anonymität mal so richtigeinen reinwürgen.
Anonymes Feedback eröffnet in solchen Fällen beliebige
Räume für versteckte Fouls, und es gibt Mitarbeitern sogar ein Erpressungspotenzial
in die Hand, nach dem Motto, Chef,
wenn Sie hier zu unangenehm werden, sollten Sie sich nicht wundern, wenn
wir unseren Unmut auch im nächsten Feedback zum Ausdruck bringen.
Dieses Erpressungspotenzial wird noch
größer, wenn das Führungsfeedback von wohlmeinenden HR-Managern noch zum
Gegenstand besorgter Gespräche und nachdrücklicher Coaching-Angebote
gemacht wird. Auf diese Weise schafft man eine Atmosphäre, in der viele
Führungskräfte es vorziehen, die heißen Eisen besser nicht anzufassen
und die Probleme unter den Teppich kehren. So vermeiden sie, dass sie
in eine Art Zwei-Fronten-Krieg hinein geraten, wobei sie einerseits von
den betroffenen Mitarbeitern Widerstand erfahren, andererseits auch noch
von oben bzw. aus dem Personalbereich Druck bekommen.
Diese Tendenz zum Mauscheln und opportunistischen Verhalten verstärkt letztlich die Intransparenz von Entscheidungsprozessen, statt sie auf eine rationale Basis zu stellen. Daran ändert dann auch der Einsatz „unabhängiger“ externer Berater nichts mehr. Der gesamte Prozess droht, zur vorverurteilenden Farce zu geraten. Was auf der Strecke bleibt, ist die soziale Ebene der Kooperation und Kommunikation.
Positiv festzuhalten ist auf jeden Fall,
Der Zeitpunkt der Beteiligung ist wichtig. Wenn alle strukturellen Entscheidungen bereits getroffen sind, bleiben für die Mitbestimmung durch den Betriebsrat meist nur noch marginale Korrekturen. Eine gute Idee wäre die Durchführung einer Art von Hearing, zu dem man gleichermaßen Befürworter und Kritiker des Verfahrens einlädt, um sich dann anschließend selber eine Meinung zu bilden, welche Art von 360°-Feedback man einführen will.
Zunächst ist der betroffene Personenkreis festzulegen. Wegen noch zu geringer Erfahrungen empfiehlt sich ein stufenweises Vorgehen und von Jahr zu Jahr den Kreis der einzubeziehenden Führungskräfte nach einem erfolgreichen Erfahrungsaustausch um eine Ebene zu erweitern.
An diesem Erfahrungsaustausch sollte sich der Betriebsrat maßgeblich beteiligen und darauf achten, dass die Teilnehmerauswahl nicht zu Einseitigkeiten führt.
Kritisches Thema ist die Anonymität, insbesondere der untergebenen Mitarbeiterinnen und MItarbeter bei der Beurteilung ihres Chefs. Wenn sie aufgehoben wird, bedarf es fankierender Regelungen zum Schutz vor eventuellen Repressalien.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Freiwilligkeit der Teilnahme. Eine Führungskraft soll selbst entscheiden, ob sie sich dem Verfahren unterzieht. Natürlich kann man dies kontrovers diskutieren. Ausnahmen sind dann angebracht, wenn das Management auf Missstände verweist, von denen es - unter Androhung von Konsequenzen - in einem zumutbaren Zeitabschnitt Änderungen verlangt.
Viele Unternehmen sehen eine Standardisierung des Verfahrens vor, um eine Vergleichbarkeit des Führungsverhaltens zu erreichen. Über die Vorteile eines solchen Vorgehens kann man geteilter Meinung sein. Stromlinienförmige Führungskräfte, alle praktisch-quadratisch-gut, sind nicht unbedingt der Garant für den Unternehmenserfolg. Alternativ dazu wäre es, den Fokus auf die Individualität zu legen, selbstverständlich unter Einhaltung von Mindestnormen des Führungsverhaltens.
Ohne klare Zielvorgaben macht das Verfahren keinen Sinn. Das Ganze als Gymnastik in Sachen Sozialkompetenz aufzuführen, ist reine Zeitverschwendung. Viele Firmen haben sog. Führungsgrundsätze. Sie allerdings zum Thema von Workshops zu machen, kann allzu leicht in Heuchelei ausarten: Jeder weiß, dass es sich nur um schöne Worte handelt, die ohnehin keiner ernst meint. Leitlinien oder Unternehmensgrundsätze sind oft Gutmenschdokumente, die wegen allzu eklatanter Nichtbefolgung zum Gespött der Leute werden. Vorzuziehen ist daher ein Verfahren, bei dem bescheiden und realistisch einzelne Ziele ausgewählt werden (beispielsweise die Dimension Lern- und Entwicklungsperspektive beim Balance Scorecard-Verfahren), deren Umsetzung auch vom Unternehmen nachgehalten wird.
Vorsicht ist bei der Computerunterstützung geboten. Wenn die Ergebnisse der verschiedenen Verfahrensschritte gespeichert werden, so entsteht ein hohes Überwachungspotenzial. Zwar haben die Erfinder des 360°-Feedbacks nicht die Kontrolle der Führungskräfte im Visier gehabt, doch viele Unternehmen legen auf ein Benchmarking von Führung Wert, d.h. sie überwachen die Vergleichbarkeit der Wahrnehmung von Führungsaufgaben durch entsprechende Auswertungen. Dabei stellen die verwendeten Fragen (in den elektronischen Fragebögen) bereits größten Teils subjektive Werturteile dar, deren elektronische Aufhebung ohnehin problematisch ist. Hier sind Richtlinien für erlaubte Fragestellungen erforderlich, deren Formulierung beachtliche Schwierigkeiten aufwerfen wird. Daneben sind Zugriffsrechte, Auswertungen und die Speicherdauer der Daten nach bewährtem Verfahren zu regeln.
In einem uns bekannten Unternehmen wird den Führungskräften das 360°-Feedback als eine Art incentive für das eigene Seelenheil angeboten: Die Inanspruchnahme ist freiwillig, und alle Unterlagen sowie Ergebnisse bleiben ausschließlich bei der betroffenen Person. Dagegen ist nichts einzuwenden.