Kurzfassung

Ray Kurzweil (Google), der zu den wichtigsten Personen der KI-Entwicklung gezählt wird, vertritt die Auffassung, wir stünden kurz davor, dass Künstliche Intelligenz menschliche Intelligenz in nahezu allen Lebensbereichen übertreffen wird. Dann wird es bald gelingen, so Kurzweils Meinung, menschliche Gehirne mit der enorm gewachsenen Computerleistung direkt zu verbinden. Diese Entwicklung würde Lebensformen ermöglichen, von denen wir heute nicht einmal träumen können. Wenn man sich auf diese Vorstelluneh einlässt, so stellen sich viele Fragen, auf die es keine Antworten gibt.


Die Arbeitsweise des Gehirns überwinden ...

Ray Kurzweil gehört zu den Chef-Entwicklern von Google. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Die nächste Stufe der Evolution. Seine Utopie ist die Verschmelzung des Gehirns mit der Superpower von technischen Systemen der Klasse Neuronale Netze. Wenn das gelingt - und nach Kurzweils Meinung steht das in wenigen Jahren an, höchstens aber in ein bis zwei Jahrzehnten - dann wird unser Bewusstsein über die gigantische Superkraft der digitalen Welt verfügen, und wir werden Dinge erleben, die unsere heutige Vorstellungskraft bei weitem übersteigen. Dann stehe auch der nächste Schritt bevor, das in seiner Leistungsfähigkeit begrenzte biologische Bewusstsein auf nichtbiologische Computer zu übertragen und uns in Richtung Unsterblichkeit unsere begrenzte Lebenszeit immer weiter zu verlängern.

Grenzen der Biologie

Ca.1014 Operationen pro Sekunde - das sind 100 Billionen - soll das menschliche Gehirn durchführen können. Im Vergleich: ein Supercomputer des Jahres 2024 schafft es auf ca. 1018 Rechenoperationen pro Sekunde, weitere Steigerung zu erwarten.

Die chemischen Bestandteile der Gehirnzellen sind ziemlich kurzlebig, die Computerzellen dagegen nahezu unsterblich.

In seinem Buch führt Ray Hoffmann aus (S. 106 ):

Glossar

Mitochondrien: Zellbestandteile (Organellen), zuständig für die Energieversorgung der Zellen.

Neurotubuli:spezielle Microtubuli, stabilisieren u.a. die langen Fortsätze von Neuronen (Axonen und Dendriten) und sind wichtig für die Signalübertragung.

MNDA-Rezeptoren: steuern bei der interzellularen Signalübertragung die Ionen-Kanäle (Ca²⁺, Na⁺ und K⁺) und sind wichtig für Lernen und Gedächtnis.

Aktinfilamente: Proteine, die jede Menge Dynamik von Zellen bewirken und sich schnell auf- und abbauen können.

Neurone sind die stabilsten Elemente und bleiben im wesentlichen erhalten. Doch die Hälfte der Mitrochondrien-Proteinbestandteile wird innehalb eines Monats ausgewechselt. Neurotubuli haben nur eine Halbwertszeit von mehreren Tagen. Und Proteine, die Energie für Synapsen liefern, werden schon nach zwei bis fünf Tagen wieder aufgefrischt. NMDA-Rezeptoren in den Synapsen werden innerhalb von Stunden ersetzt. Aktinfilamente in den Dendriten halten etwa 40 Sekunden durch.

Das wird ohne jedwede Erklärung beschrieben, verwunderlich für ein populärwissenschaftliches Buch, deshalb nebenstehendes Glossar, damit der nicht fachkundige Leser eine kleine Ahnung hat, worum es hier geht.

Quellen für die Kurzlebigkeit

  • Samuel F. Bakhoum und Duane A. Compton, Kinetochores abd Disease: Keep Microtubes Dynamics in Check, in Current Opinion in Cell Biology 24, Nr. 1 (Feb 2012), S. 64-70 Link
  • Laurie D. Cohen et al., Metabolic Turnover of Synaptik Proteins, Independencies ans Implications for Synaptic Maintenance, in PLoS One 8, Nr. 5, e63191 (2. Mai 2013), Link
  • K.H.Huh und R-J-Wenthold, Turnover Analysis of Glutamate Receptors Identifies a Rapidly Degradated Pool of the N aspartate Receptor Subunit, NR1, Cultured Cerebella Granulate Cells, in Journal of Biological Chemistry 274, Br. 1 (1. Janar 1999), S. 151.157, Link

Mir fehlt das medizinische Wissen, um die Seriosität dieser Aussagen überprüfen zu können (Vielleicht hat eine Leserin oder ein Leser mit entsprechendem Fachwissen Lust un Laune, mir eine Mail mit ein paar Hinweisen zu schreiben). Aber sie scheinen wichtig für Kurzweils Argumentation, der sich mit der Vergänglichkeit des Lebens nicht abfinden mag.

Zunächst geht es um die Überwindung dieser Vergänglichkeit. Technischer Fortschritt soll diese Grenzen - wenn nicht aufheben - so doch Stück für Stück durch Übertragung des Bewusstseins auf eine nichtorganische Silizium-Basis ersetzen.

Weiter geht es um den Erhalt der Identität. Obwohl unsere Gehirnzellen oder wichtige ihrer Bauteile so schnell ausgetauscht werden, bleiben wir immer noch dieselben. Unsere Identität, unser Bewusstsein und speziell unser Selbstbewusstsein bleiben davon unberührt. Kurzweils Utopie ist die Hoffnung, dass die biologischen Funktionen unseres Gehirns nach und nach durch „Computerzellen“ ausgetauscht oder ergänzt werden. Wir bleiben am Ende eines solchen Prozesses immer noch wir, folgt man Kurzweils Gedanken.

Bleibt noch die Frage zu klären, wie die Verbindung der menschlichen Gehirnzellen mit der Computerleistung aus der Künstlichen Intelligenz-Wolke hergestellt gehen soll. Da liegt Kurzweils Hoffnung bei der Nanotechnik. Schon in den 2030er Jahren wird nach seiner Überzeugung diese Technik in der Lage sein, durch mikroskopisch kleine sog. Nanobots die oberen Schichten unseres Gehirns, genauer des Neocortex, mit den künstlichen Neuronen in den KI-Systemen einer Cloud zu verbinden. Hoffnung macht für Kurzweil dabei der Umstand, dass die Nerologie heute schon kurz davor ist, mit winzigen Elektroden Verbindungen zu einzelnen echten Neuronen herstellen zu können. Die Miniaturisierung dieser Technik müsse allerdings noch weiter fortschreiten, meint er.

Das Ergebnis: ein unglaublicher kultureller Reichtum, wenn uns das Wissen und die Kultur der ganzen Welt direkt zur Verfügung stünde, jederzeit aus dem Stand abrufbar. Folgt man Kurzweils Fortschrittsglaube, so wird sich die KI-Technik sogar aus sich selbst heraus weiterentwickeln. Wenn wir so mit der Superintelligenz verschmelzen, können wir endlich die "Enge unseres Schädels" verlassen, unser Bewusstsein kann exponentiell wachsen und unsere Intelligenz sich millionenfach ausdehnen. Dagegen waren die Phantasien vom Nürnberger Trichter früherer Zeiten eine recht bescheidene Angelegenheit.

Bleibt noch anzumerken, dass Bewusstsein für Kurzweil als sog. Emergenz aus der Hyperkomplexität der Vorgänge im Gehirn entsteht, einfacher ausgedrückt direkt aus dem Hirngewebe. Da ist dann von neuronalen Korrelaten die Rede. Das ist eine sehr vereinfachte und hochumstrittene Sicht auf die zugegeben komplexe Thematik.

Zukunftsphantasien

Wir werden dann noch weitere Vorteile der digitalen Gehirnerweiterung nutzen können. Software lässt sich bekanntlich zu minimal niedrigen Grenzkosten vervielfältigen. Sollten wir es nicht schaffen, unser Bewusstsein biologisch zu kopieren, kein Problem, denn wir könnten ja als digitale Kopie unserer selbst weiterleden. Und diese Kopie hätte unser Bewusstsein übernommen. Und damit nicht genug: Wir könnten sogar in mehreren Kopien unserer selbst existieren. Mit Rückgriff auf eine Theorie, die sich Panphysismus nennt, wären diese Kopien mit unserem Bewusstsein zu einer Identität verbunden, könnten aber unterschiedliche Erfahrungen machen. Spannend, was unsere Kopien dann miteinander anstellen könnten.

Das alles schreibt nicht irgendwer. Ray Kurzweil kennt sich mit der KI-Technik bestens aus, wurde 2012 Director of Engineering bei Google und hat dort maßgeblich an Projekten des maschinellen Lernens und der Sprachverarbeitung gearbeitet. Ein wichtiges aktuelles Forschungsgebiet ist für ihn das Brain-Computer-Interface. Da ist er nicht allein unterwegs, mit dabei ist Elon Musk mit seiner Firma NeuraLink, falls ihm seine Aufräumdienste für US-Präsident Donald Trump noch - oder wieder - Zeit dafür lassen.

Offene Fragen

Kurzweils Szenario beruht auf einer Menge von Annahmen, die zumindest zurzeit als unbewiesen gelten müssen. Die wichtigsten davon sind:

  • Wie entsteht Bewusstsein??
    Nach dem Emergenz-Motto Das Ganze ist mehr als seine Teile entstünde Bewusstsein aus dem Hirngewebe durch die Komplexität der Interaktionen und den vielfältigen Beziehuungen der Milliarden einzelner Neurone. Diese Theorie kann das Erleben von Wahrnehmungen allerdings nicht erklären. Und erst recht nicht, wie aus dem Bewusstsein die nächste Stufe, ein Selbstbewusstsein, entstehen kann. Es ist bekanntlich unmöglich, technisch etwas zu bauen, was man nicht erklären oder beschreiben kann.
  • Wie funktioniert unser Gedächtnis??
    Wir wissen viel über Wahrnehmungsprozesse und was dann in unterschiedlichen Hirnarealen geschieht. Aber wie daraus Empfingungen entstehen und Erfahrungen für Erinnerungen codiert werden, welche Rolle Gefühle dabei spielen, wo und wie im Gehirn das stattfindet, ist uns unbekannt. Viele Neurowissenschaftler bemühen dafür den Begriff Neuronale Korrelate, allerdings ohne ihn wirklich erklären zu können.
  • Wie kann ein Computer-Hirn-Interface funktionieren?
    Was genau soll zwischen biologischen und künstlichen Neuronen überhaupt übertragen werden? Reicht es aus, sich nur auf die Neurone zu beschränken? Die Synapsen im Gehirn unterliegen organischen Veränderungen, die mit chemischen Prozessen zu tun haben und sich nicht allein durch elektrische Impulse beschreiben lassen. Reicht es aus, diese in der „Hardware“ des menschlichen Gehirns stattfindenden Veränderungen in Speichergewichtsveränderungen der Verbindungen künstlicher Neurone zu übertragen?
  • Wie geht das erweiterte Superhirn mit Erinnerungen um?
    Das „Gedächtnis“ von Computern ist statisch. Alle Informationen befinden sich fest auf irgendwelchen Speichermedien. Darüber wie unser Gedächtnis funktioniert, haben wir keine genauen Vorstellungen. Uns ist noch nicht einmal bekannt, wo das gespeichert ist, was wir erinnern können. Wir vermuten, dass unser Gedächtnis sich durch Erfahrung und Erleben bildet. Jede Erinnerung wird dynmisch erzeugt, ist also kein Abruf staatisch gespeicherter Information. Erinnerungen an denselben Sachverhalt sind im Wiederholungsfall auch nicht identisch, sie werden immer wieder neu erzeugt. Wenn wir uns erinnern, überfallen uns unsere Gedanken nicht. Erinnerbares braucht Context, wird vermutlich in Beziehungen zu bereits Bekanntem, Erlebtem gespeichert. Es ist schon eine spannende Frage, wie das Weltwissen der mit unserem Gehirn verbundenen Supercloud den Weg in unser Bewusstsein finden soll.
  • Wie lässt sich der Vorgang des permanenten Lernens in einem digitalen Gehirn abbilden?
    Das „Wissen“ (genauer: die gespeicherte Information) der Large Language Models ist statisch. Es kann nur durch erneutes Training erweitert werden. Das mag für abrufbare Information kein nicht hinnehmbares Hindernis sein, die Info ist halt nicht brandakuell. Aber für das tägliche Leben ist es ein Showstopper, gleichbedeutend mit einem Leben ohne Kurzzeitgedächtnis. Wenn die mit unserem biologischen Gehirn verbundene Cloud dann von anderen Institutionen erweitert wird und uns die Inhalte sofort verfügbar sein sollen, so wird zu klären sein, welche raffinierten Prompt-Techniken wird entwickeln müssen, um das nicht in eigenem erlebten Context erworbene Wissen abrufen zu können.
  • Wie überwindet man die Leistungsdefizite künstlicher Neurone?
    Die Neurone im menschlichen Gehirn benutzen für ihre Signalübertragung nicht nur elektrische Signale. Eine vielfältige Biochemie spielt dabei eine wichtige Rolle, die vor allem mit der Bedeutung von Emotionen bei der Codierung von Erfahrung für das Gedächtnis zu tun hat. (Mehr dazu hier). KI-Systeme verfügen zwar über Analyse- und Simulationsmöglichkeiten für Emotionen, können aber keine Emotionen für die direkte Codierung wahrgenommener Dinge benutzen. Für die Entwicklunsingenieure in Sachen Künstlicher Intelligenz gibt es noch keine Pläne oder Vorlagen, die man nachbauen könnte.

Die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Man kann mit etwas Phantasie nachvollziehen, dass die Hirn-Computer-Verbindung schnellere Zugriffe auf Informationen erlauben kann. Im Umgang mit den Chatbots sieht man bereits, wie wichtig es ist, den Systemen „richtige“ Fragen zu stellen, mit anderen Worten: auf das Prompting kommt es entscheidend an. Bis heute verfügt noch kein KI-System über die Fähigkeit, autonom Fragen zu stellen.

Was muss den Menschen versprochen werden, damit sie sich ein Implantat in das Gehirn einsetzen oder ein paar Milliarden Nanobots injizieren lassen?

Karl Schmitz • Februar 2025